FISCHERS FISCH

 

 

 

 

Zum Geleit

Die Idee zu diesem Buch entstand in einem Gespräch über die Fischer auf Hiddensee und erschien so unvermittelt am Handlungshorizont wie jener Regenbogen über Ahrenshoop, der am Nachmittag des 3. Oktober 2016 eine Sturmflut ankündigte: Fotos, die Edith Tar vor vierzig Jahren auf Hiddensee gemacht hat, werden zur Basis für ein Experiment im Labor der Zeit. Fred Lautsch wandelt zehn der Fotos in Linolätzungen, während Radjo Monk zum Konvolut aktuelle Reisenotizen auswählt und Gedichte schreibt.

Fischer, Schafe, Ankerpunkte und ein Netz subjektiver Erinnerungen, das lautlos durch das kollektive Gedächtnis gleitet. Viele Namen von Orten an der Ostsee stehen seit mehr als Hundert Jahren ganz oben auf der Sehnsuchtsliste. Tonnenweise Ansichtskarten, versickert in Schubladen. Dabei verzeichnet jedes Foto ein  Ereignis, jedes liegt wie ein Gepäckstück auf dem Transportband Zeit: es kommt nur darauf an, wer wann welches Gepäckstück greift, wohin die Person damit geht und was damit gemacht wird. Edith Tar strebt als Fotografin und Künstlerin Nähe und Teilhabe an, Radjo Monk sucht als Dichter die Essenz des Augenblicks und Fred Lautsch schätzt in seiner Doppelrolle als Verleger und Drucker Neuland ebenso wie die visuelle Überraschung.

Allen gemeinsam ist die Freude an dieser medienästhetisch ungewöhnlichen Art der Vergegenwärtigung eines Lebens, das heute nur noch in Spuren auf der Insel zu finden ist.

 

 

Zur Entstehung der Fotos

Edith Tar ist mit den Fischern rausgefahren, hat ihre Arbeit und ihren Alltag auf Hiddensee begleitet. Zu diesem Alltag gehörten Schafe, die das Gras kurz hielten. Einmal im Jahr wurden die Tiere geschoren, verladen und nach Schaprode gebracht. Edith Tar erinnert sich im Gespräch mit Radjo Monk: "Es war noch duster, als die Schafe verladen wurden. Aber als dann alle Tiere und Menschen auf dem Schiff waren und wir ablegten, da war es rosa und hellblau, und ich fühlte mich wie auf einer Schaukel, nach oben war alles offen. Dunstig, hellblau, rosa, und wenn mal ein Tier 'Bäh' gemacht hat, dann war es, als würden die Seile reißen, an denen die Farben aufgehängt schienen. Das war ein unvergesslicher Moment, alle waren stille Zeugen einer Stunde, die aus der Zeit gefallen war. Niemand hat etwas gesagt, die Männer haben geraucht. Menschen Tiere Wasser Boot Himmel - das war so eine unglaubliche Einheit, zusammengehalten von Bäh.

Ich fühlte mich wie auf einem Nachen zwischen Leben und Tod. Das war nicht nur optisch sensationell, sondern seelisch, es war ganz fein, wie ein Wunder. Und das Schweigen. Erst die Tiere, die nicht wollten, und mit Karacho ins Boot gezerrt wurden; es waren laute Taten, eine ganze  Stunde voll Handlungen, und dann plötzlich nichts. Nicht nichts, sondern es war stumm, und das Stumme war mit dem Licht zusammen. Und das Wissen, dass die Schafe am anderen Ufer zum Schlachthof gebracht werden. Für die Männer gab es dann Geld und Schnaps auf der Rückfahrt, die ganz normal war, alles war gemacht, alles erledigt, es gibt ein neues Jahr, neue Schafe."

 

 

 

Ein Tropfen Himmel

Schaut mich an


Im Fallen gelöst

Von einem

Sanddornstachel

 

Sein Fall dauert

Ein ganzes

Leben

 

Mein Schauen

Einen Augenblick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Szene am Hafen

Sonne wärmt die Segel, denen wir unsere Blicke leihen. Stille nimmt Platz auf dem Thron der Stunde. Eine Göttin, die weder Opfer noch Gebete braucht, ihr ist das Innehalten Tribut genug. Schuhe abstreifen, Augen schließen und Ausschau halten nach dem Land der Herkunft. „Ihr alle seid zum Hafen gekommen, weil Euch nach Heimkehr dürstet. Seid willkommen in dieser Stunde, denn Euere Welt geht unter, aber in meinem Beiboot wird Euch die Fahrt an das Ufer jenseits aller Versprechen gelingen“. Eine leise Stimme hinter dem MP3-Spieler einer Passantin. Wir treffen uns am Grill, das letzte Stück Lachs geht an eine Frau aus Münster.

 

 

 

 

 

 

   

Seite 14-15

 

Seite 9

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weltmeer II

 

Welten waren uns versprochen,

Tage ohne Horizont und Zeit.

 

Vergaßen wir, das Glück zu erwarten?

Oder warum besiedeln wir Bilder,

Als hätten sie uns Räume erschaffen,

Als wären nicht wir die Erfinder von

Aufruhr und Streit?

 

Im Morgengrauen erreicht ein Mann

Das Ufer, er steht auf einem Surfbrett

Und paddelt langsam heran. Nackt und

Groß ist er einem Meer entkommen,

Das so unendlich viel Leben verschlang.

 

Was will er am Ufer, was in Thiessow?

Schmuggelt er Koks oder Codes mit dem

Zugang zu neuen Formen der Kommunikation?

Ist ein Lied noch zu singen oder wäre

Eben das nichts als purer Hohn?

 

Die versprochene Welt bleibt ein Durchgang,

Von niemanden bewohnt. Am späten Abend

Kehrt der Mann zum Strand zurück, besteigt

Sein Surfbrett und gleitet ostwärts davon.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   

Seite 54-55

 

Seite 36

 

 

In den Verkehrsströmen der Städte denke ich manchmal: Hat dieses Strömen wirklich nichts damit zu tun, dass der menschliche Körper zu siebzig Prozent aus Wasser besteht und kein Organ so viel Wasser braucht wie das Gehirn, ohne Wasser also weder das Gedicht noch der Gedanke entstünde, auch kein Stift, kein Papierkorb, kein Fahrplan, nichts und folglich jeder einzelne Mensch in diesem Strömen von Kerni bis Kiel und von Sankt Petersburg bis Rügen als eine Insel zu denken wäre, gleichsam ein ferner, nur mit Fähre zu erreichender Traum, ein rettendes Ufer im Falle eines Unglücks oder auch ein überlaufener Erholungsort, je nachdem, vielleicht sind wir alle Ansichtskarten im Archiv der Götter, denke ich und spüre im Weitergehen zunehmend Durst.

 

 

Ostsee vor St. Petersburg

 

Am finnischen Meerbusen stehen,

Sankt Petersburg im Rücken, und

Versuchsanordnungen studieren,

In denen das letzte Jahrtausend

Ausgebrannt ist: wir, von Prospero

Ausgehauchte Namen, Flüchtlinge im

Tierkreis, nicht entrückt in die

Geschichte, aber vom Horizont deutlich

Zu unterscheiden schreiten Soldaten in langen

Reihen durch die baltische See.

 

Wohin kehren sie zurück in ihren langen

Feldmänteln, die so grau sind wie die See?

 

Am Ufer stehen und über

Versuchsanordnungen meditieren,

In denen das letzte Jahrtausend verdampfte in

Kämpfen um Arbeit und Gerechtigkeit,

Freiheit und Heimat: aus diesem

Kondensat entstehen Sendungen, von

Prospero milliardenfach hingebreitete Leben.

Und wir, im Tierkreis zirkulierende Schatten?  

 

 

 

 

 

 

 

 

Neuendorf

Wie war es, als die Wiesen deinen Fußabdruck aufsogen?

Als eine Windbö deine Lebensdaten zerstreute?

Wie war es, als die Fähre ohne dich ablegte?

 

Ein Blick zum Himmel und wir werden unseren Kindern

Heimstatt. Finden zueinander und legen uns

den Gräsern gleich nah

zur Erde.