2003 entstand während eines Arbeitsaufenthaltes in den "Studios international Höfgen" bei Grimma das Fotoprojekt  CAPPUCCETTO ROSSO und der inkludierte Videofilm SEINE RETTUNG GESCHAH ABER FOLGENDERMASSEN ...

 

Das Projekt war 2003 in der STUDIOGALERIE Kaditzsch und in der KLOSTERKIRCHE Grimma, 2007 in der KORNHAUSGALERIE Weingarten und 2010-11 im KUNSTMUSEUM DONAUSREIS Wemding zu sehen.

 

Die folgender Bildbeispiele orientieren sich an der 2003 im Passage Verlag Leipzig erschienen Publikation und an Ausstellungdokumentationen.

CAPPUCCETTO ROSSO:

 

 

       

Kunstmuseum Donau-Ries, Wemding 2010: Blick in die Ausstellung

 

Blick in die Ausstellung

 

Blick in die Ausstellung

 

 

 

 

 

 Babylon II, Seite 12

 

 

 

 

 

       

Zweistromland, Seite 24

 

Deukalion, Seite 10-11

 

Gilgamesch durchquert die Wüste, Seite 28

 

 

 

 

 

 

 

   

   

Ur, Seite 8

 

Uruk, Seite 9

 

Henochs Herzschlag, Seite 15

 

Zwei Texte aus dem Katalog:

... daß am Ende alles gut wird

Ralf Urban Bühler, Professor für Video-und Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig

 

Seit jeher ringen wir um die wirksame Beschwörungsformel, damit der Fluß der Dinge nicht zur Flut ansteigen möge. Aber die Flut kommt. Sie reißt mit sich, was nicht festzuhalten ist. Das Drama der entfesselten Elemente versammelt die Grundmotive der Existenz in erschreckender und Demut gebietender Eindringlichkeit. Schöpfung und Zerstörung, Schuld und Sühne, Furcht und Tapferkeit, Bangen und Hoffen, Dauer und Vergänglichkeit, Ordnung und Chaos, Macht und Ohnmacht, Fluch und Gebet, Besitz und Besitzlosigkeit, Natur und Mensch, Leben und Tod. Zurück bleibt jene lehmige Substanz, die wir mit widerstrebender Einsicht als Urgrund aller Beseelung erkennen.

 

Und das Drama braucht Akteure und Zuschauer, Betroffene und Voyeure. Die Flut der Bilder wird eingespeist in die elektronischen Ströme der Risikogesellschaft. Das kollektive Beschwörungsritual versammelt die heillos Überversicherten zur Gemeinschaft der nochmal Davongekommenen. Der nächsten Flut entgegen. Der Ausländerflut, der Gesetzesflut, der Flut von Informationen, Arbeitslosen, Killerviren, Kriminellen, Terroristen, Müll, Wetterextremen, Reizen, Drogen, Konsumangeboten, Pornografie, Banalität, Werbebotschaften. Beständig oszillierend zwischen Hoffen  die Welt möge nicht untergehen und der Himmel nicht einstürzen  und Bangen   die große, die ganz große Flut könne alles hinwegschwemmen und am Ende noch gut daran tun.

 

Mit "Cappuccetto Rosso" hat Edith Tar die verwirrende Gemengelage auf den vereinfachten und dadurch berührbaren Term eines Kunstwerkes heruntergekürzt. Die überflutete Welt wird dem Bildraum der gebrauchssüchtigen Medienkultur entzogen und dem Märchenreich übereignet, keineswegs hartherzig und distanziert, sondern sorgsam und unpathetisch. Damit ändert sie den Standort des Betrachters, beraubt ihn der trügerischen Gewißheit einer zweifelhaften Zeugenschaft, der doppelbödigen Gemütlichkeit mitleidiger Anteilnahme. In der Märchenwelt verlieren die Alltagsprothesen des nach Zweck und Gewinn planenden Neuzeitverstandes ihren Gebrauchswert. Im Zauberwald ist es immer ein wenig dunkel und unheimlich, dort wird der Wolf mit betörender Eleganz und performativer Kraft vollkommen unsensationell zum Kinderschänder und Rentnermörder. Die Normalität des Undenkbaren gewährt sanfte und kostbare Blicke in den Schaltraum des Werdens und Vergehens. Die kindliche Untersicht kennt keinen Respekt vor Glaubensbekenntnissen und Weltanschauungen. Die Welt wird, so wie es ihr zukommt, schaudernd bestaunt. Rotkäppchens einziger Weggefährte ist die vollkommen deplazierte, jedoch nie enttäuschte Gewißheit, daß am Ende alles gut wird. So wird die Zeit angehalten ohne still zu stehen. So wird die Möglichkeit von Erlösung ohne Strafgericht in den Rang der Wahrscheinlichkeit erhoben. So wird schließlich das Paradies dort geortet, wo es immer war und vernünftigerweise auch hingehört   mitten in der Sintflut.

 

Dezember 2003

Ein Lied über rein gar nichts

Radjo Monk, Dichter und Videokünstler

 

Zwei Bilder klammern die Bildserie von objet trouvés, auf denen jeweils eine in feines Weiß gekleidete Frau zu sehen ist, deren Haarschopf an eine rote Kappe erinnert. Dieser Umstand und die Tatsache, daß Edith Tar mit der Italienerin Simonetta aus Parma als Modell gearbeitet hat, führten zu diesem Titel für eine Bildserie, deren Entstehungsgeschichte von Zu-Fall, vom zufälligen Finden geprägt ist.

Die Bilder entstanden am 22. August 2002 bei Grimma auf dem Gelände des Kinderferienlagers Wednig, das die Flut weggerissen hatte.

Die Frau erscheint einer guten Fee gleich im Land der Zerstörung. Eine Trösterin inmitten entwurzelter Bäume, zertrümmerter Häuser und Schwimmbecken voller Schlamm? Eine Mahnerin kommender Menetekel? Eine Zauberin, die alles wieder gut werden lassen kann? Die Bilder geben keine eindeutige Antwort, aber es darf angenommen werden, daß es sich um eine Geschichte handelt, der diese Figur Anfang und Ende leiht.

 

Der italienische Titel „Cappuccetto Rosso“ des deutschen Märchens „Rotkäppchen“ rückt die Bildserie Edith Tar’s nicht nur weg vom konkreten Ort der Fotosession in ein Anderswo, es erzeugt gleichzeitig auch ein den Betrachter provozierendes Überall, in das dieser gestellt wird.

Entgegen der Legende von den lauschend durch deutschen Tann ziehenden Märchensammlern haben die Brüder Grimm die Geschichte vom Rotkäppchen sehr wahrscheinlich aus dem Mund gut situierter Töchter hugenottischer Herkunft, die Wurzeln des Märchens liegen in Frankreich und Italien. Das ist zwar zum Verständnis der Bildserie nicht wichtig, deutet aber auf einen unterirdischen Strom, der Ländergrenzen ebenso wenig achtet wie die sich oberirdisch entladenden Wolken, deren Wassermassen im August 2002 weite Teile Mitteldeutschlands in ein „Landunter“ verwandelten. Eine Jahrhundertflut wurde vermeldet, gelegentlich fiel auch das Wort Jahrtausendflut, obwohl eben das gerade mal begonnen hat – als dürften die Pegelstände der kommenden 998 Jahre dieses Maß nie wieder erreichen ...

 

Ungefähr tausend Jahre vorher schwang sich in Südfrankreich ein Mann namens Wilhelm in den Sattel und war entschlossen, ein „Lied über rein gar nichts“ zu machen.

Wilhelm IX. von Aquitanien (1071-1127) gilt als erster Troubadour und war der Urahn jener Eleonora von Aquitanien, die den fahrenden Sängern die Höfe öffnete.

Das scheint nun sehr weit ab vom Thema zu liegen, drängt sich aber bei genauerem Hinsehen geradezu auf, denn Edith Tar hat die Bilder ihrer Serie nach der Flut im Schlamm gefunden und bearbeitet. Es handelt sich um objet trouvé: Fundstücke.

Ähnlich motiviert zog Wilhelm los, er suchte ein Lied über Nichts. Edith Tar suchte das Nichts in diesem von Allem durchdrungenem Ereignis der Flut. Die Flut, die vom Himmel kam, hatte unter anderem persönliche Erinnerungen - Dias - anonymisiert, aus dem privaten in den öffentlichen Raum geschwemmt. Persönliche Erinnerungen als Fundstücke, die keiner Person mehr zuordenbar sind, und durch manuelle Bearbeitung zu archetypischen Bildern mutierten. Die Titel öffnen einen Bezugsrahmen, der das zeitlich begrenzte lokale Geschehen mit den ältesten Flutberichten, die die Menschheit kennt, korrespondieren läßt.

Schöpfungsmythen sind fast immer Erzählungen vom Überleben einer Flutkatastrophe, die Wurzeln der Zivilisation verlieren sich im fruchtbaren Schwemmland.

 

Da die Künstlerin ihre Bilder dem relativ jungen Genre der objet trouvés zuordnet, schlägt sie dem Betrachter allerdings einen interpretatorischen Pfad vor, der verschlungen scheint und dem distanzierten Blick auf zyklisches Werden und Vergehen die komfortable Ruhe raubt.

 

Die farbintensiven, malerisch wirkenden Oberflächen ihrer Bilder, unter denen schemenhaft konkrete Objekte erkennbar werden, haben die verstörende Schönheit von Märchen. Und wenn in Märchen Psychodramen verpackt sind, die das von Grausamkeiten faszinierte Kind vor Traumatisierungen durch reale Grausamkeiten schützen soll, folgt Edith Tar einer ähnlichen Strategie. Die Transformation anonymisierter Erinnerungen in eigenständige Bilder versinnbildlicht die Verwandlung von Verlust in Gewinn und kann als Matrix eines kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden. Die dokumentarische Ebene, die immer noch als die eigentliche Domäne des Mediums Fotografie gilt, wird hier zugunsten einer Bildsprache verlassen, die nicht konstatiert, sondern kreiert. Womit wir wieder bei Wilhelm dem Troubadour wären, dem ein Lied über Nichts die Krone aller zu findenden Lieder war. Nicht umsonst liegt dem französischen Begriff für fahrende Sänger das Wort trouvé zu Grunde, die Sänger waren also im eigentlichen Sinne Finder. Finder und Erfinder von Welt - und Seinsbildern, die der vorgefundenen Welt, dem hingeworfenen Sein etwas hinzufügten, das vorher nicht war. So auch Edith Tar, die in dieser Serie mit jener schillernden, Grenzen verwischenden, zum Augenzwinkern animierenden Qualität des Nichts operiert, das der vorhandenen Objektwelt etwas von ihrer Dichte nimmt, ihr Transparenz verleiht, die Dinge ein wenig ver-rückt.

 

9.12.2003

 

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Cappuccetto Rosso II“

am 16.8.2003 in der Klosterkirche Grimma

 

Willkommen in der Klosterkirche von Grimma zu einer Ausstellungseröffnung, die an das bisher Erlebte anknüpft und uns weitertragen soll.

Nachdem wir die Ausstellung „Cappuccetto Rosso“ Teil 1 von Edith Tar in der Studiogalerie eröffnet und den Videofilm „Seine Rettung geschah aber folgendermaßen ....“ von Edith Tar und Radjo Monk gesehen haben, sind wir, begleitet von Friedrich Schenkers Posaunenspiel und Radjo Monks Gedichten, an der Mulde entlang gegangen, die dieser Tage so schwer schiffbar ist wie vor einem Jahr. Diesmal nicht wegen Überflutung, sondern wegen Niedrigwasser.

 

Wir sind von Innen nach Außen gegangen und von Außen kommend in einem Innenraum angelangt. Es ist der Innenraum einer ehemaligen Kirche, deren architektonisches Diktat bis heute wirkt, und mit dem sich Künstler immer wieder auseinandergesetzt haben.

 

Wer die verschiedenen Projekte gesehen hat, die in den letzten Jahren hier präsentiert worden sind, wird mir beipflichten können, wenn ich feststelle, daß diesmal eine ebenso komplexe wie ästhetisch geglückte Ausstellung zustande gekommen ist, die nicht nur das Thema Flut auf ganz originären Ebenen thematisiert, sondern dem Kirchenraum etwas von seiner ursprünglichen Funktion zurückgibt.

 

„Cappuccetto Rosso“ ist der italienische Titel des deutschen Märchens „Rotkäppchen“.

Die Wahl des Titels hat – neben dem roten Haarschopf des Modells - zwei Gründe: 1. wird damit die Flut des letzten Jahres aus ihrem lokalen Bezug gelöst und assoziiert einen größeren geographischen Rahmen.

2. verweist der Titel auf die Tatsache, daß Märchen vor Traumatisierungen schützen. Und zweifellos hat die Flut im vorigen Jahr viele Menschen in der Seele getroffen. So lenkt die Ausstellung die Aufmerksamkeit auf Fragen nach Werten, nach dem Stellenwert von Dingen und Besitz, und auf den Sinn von Begrifflichkeiten, die unser Tun und Trachten prägen. Da dies der Künstlerin gelungen ist, ohne den Zeigefinger zu heben, umspielt die aus einem eigentlich tragischen Geschehen gefilterten Bilder ein Schimmer des Zauberhaften.

 

Am Anfang ihrer Arbeit stand für Edith Tar die Frage: Wie kann man mit einer Katastrophe umgehen, ohne sich eines apokalyptischen Vokabulars zu bedienen?

In Wednig bei Grimma entstand die Serie „Simonetta. Nach der Flut“, zwei Bilder aus dieser Serie sind in die Ausstellung integriert und hängen als Blickachse im ehemaligen Altarraum.

Links und rechts an den Wänden sehen wir Bilder, die eine andere Geschichte haben.

Die Apostrophierung der ausgestellten Arbeiten als ObjetTrouvé verweist zwar auf ihre Herkunft, aber die Bilder scheinen sich letztlich der Einordenbarkeit zu entziehen.

Die Bilder fragen auch nach der Verschränkung von Mikro-und Makrokosmos. Das Ineinander kleinster und größter Dinge und Seinsformen hat formale und inhaltliche Aspekte, die den Entstehungsprozeß der Bilder geprägt und diesen bis hin zur Präsentation an zwei verschiedenen Orten bestimmt haben.

 

Zwei Wirkungsebenen in thematischer Resonanz werden deutlich, denn während die Bilder vom Galerieraum in die Rezeptionsmuster moderner Kunst gerückt werden, geschieht mit den Bildern im leeren Kirchenraum etwas ganz anderes. Die Bilder erinnern an Freskenmalereien, die tote Innenhaut der Kirche scheint sich zu spannen, zu atmen. Der Verzicht auf eine lineare Hängung verstärkt diesen Eindruck.

Indem die Bilder eine Verbindung mit dem Raum eingehen, tritt das Moment der Erhabenheit hervor, das in ihnen angelegt ist. Und es ist dieses Moment der Erhabenheit, das die Verschränkung kleinster und größter Dinge vorantreibt und ankommen läßt im Kern der Bilder, die ihre Besitzer verloren und auf einer überpersönlichene Ebene die öffentliche Aufmerksamkeit als neuen Eigentümer gewonnen haben.